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Warten auf Ägyptens historischen Moment

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Bevor er das lang erwartete, Tage verspätete Wahlergebnis verkündet, hält Wahlkommissionschef Faruk Sultan uns Journalisten und den Ägyptern an den Bildschirmen erstmal eine Vorlesung über sich selbst und seine Wahl. Meine Zweifel an der Integrität der Wahl (und seiner eigenen) hat er damit nicht ausgeräumt.

Um 15 Uhr waren große Teile Ägyptens nahezu menschenleer. Auf dem von Demonstranten besetzten Tahrirplatz hatten sich zehntausende Gegner des herrschenden Militärrats versammelt und warteten gebannt vor Bildschirmen, Radios und Computern auf die Verkündung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl. Aber außerhalb des von improvisierten Checkpoints gesicherten Platzes, verließen viele Kairoer ihre Häuser nicht. Zu groß war die Angst vor Unruhen. Vor allem für den Fall eines Sieges des bei den Islamisten und der Revolutionsjugend verhassten Ex-Generals und Mubarak-Vertrauten Ahmed Schafik – so es hatten mehrere ägyptische Medien prophezeit – wurden gewaltsame Ausschreitungen befürchtet. In der sonst so lauten und überfüllten Metropole war es ruhig wie selten. Manche Vorstädte wirkten wie ausgestorben.

Im Saal des „Staatlichen Informationsdienstes“, wo die Oberste Wahlkommission ihr Ergebnis verkünden sollte, herrscht dagegen keine Ruhe. Mehr als 100 Journalisten und fast 50 Kamerateams drängen sich hier. Als die Kommissionsmitglieder, angeführt von Verfassungsgerichtspräsident Faruk Sultan, mit mehr als einer halben Stunde Verspätung erscheinen, kommt es zwischen einigen Journalisten, Saalwächtern und Kommissionsmitgliedern zu handfesten Rangeleien um die knappen Sitzplätze. Der Generalsekretär der Wahlkommission ruft die Journalisten zur Ordnung: „Ihr seid live im Fernsehen!“

Auch nachdem dieser Streit geklärt ist, gibt es noch kein Wahlergebnis. Zunächst wird die Nationalhymne aus scheppernden Lautsprechern abgespielt. Alle Anwesenden erheben sich zum „Vaterländischen Gruß“.  Dann endlich ergreift Wahlkommissionschef Sultan das Wort. Doch statt den Ägyptern endlich zu erzählen, wer ihr erster gewählter Präsident werden wird, beginnt er, ihnen eine Vorlesung zu halten. Die ganze Nation und darüber hinaus Menschen in der ganzen Welt schauen in diesem Moment auf Sultan. Der 70-jährige, noch von Mubarak eingesetzte Verfassungsrichter nutzt dies, um sich und die Wahlkommission gegen alle Vorwürfe zu verteidigen, die in den vergangenen Monaten erhoben worden waren.

Eine halbe Stunde lang erzählt Sultan, was er und seine Kollegen, alles im höchsten Interesse des Vaterlands getan hätten – vom umstrittenen Ausschluss von 10 Kandidaten vor der ersten Runde der Wahl bis zur Nichtanwendung des vom Parlament beschlossenen Gesetzes zum Ausschluss hoher Funktionsträger des Mubarakregimes, unter das vor allem Schafik gefallen wäre. Insbesondere im letzten Fall habe sich die Position der Wahlkommission schließlich trotz aller „gezielten Angriffe“, „Desinformationskampagnen“ und „Lügen“ in den Medien als zweifellos richtig erwiesen. Denn, so argumentierte Sultan tatsächlich, das Verfassungsgericht habe das Gesetz ja letztlich gekippt – das Verfassungsgericht, dem er selbst vorsitzt.

Als sich Sultan schließlich nach fast einer Stunde räuspert und unvermittelt „das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen“ ankündigt, geht ein Ruck durch den Saal. Viele Kameraleute hatten ihre Kameras zwischenzeitlich wieder ausgestellt. Reporter waren während Sultans Sermon tief in ihre Sessel gesunken.

Nun ist das ganze Land aber plötzlich hellwach. Im Saal springen einige Journalisten mit „Allahu-Akbar“-Rufen auf, als klar ist, dass die Kommission den Sieg Muhammad Mursis von den Muslimbrüdern bestätigt. 

Auf dem Tahrirplatz bricht lauter Freudenjubel aus. Feuerwerkkörper werden gezündet, Fahnen geschwenkt. Der Fernsehkommentar ist nicht mehr hörbar.

Und auch an anderen Orten Kairos kommen die Menschen wieder aus ihren Häusern. Als erstes stehen Verkäufer mit ägyptischen Fahnen an den großen Straßen, dann kommen die Autos mit jungen, fahnenschwenkenden Männern. Kurz darauf ist die Stadt ein einziges Hupkonzert. Sogar noch ein bisschen lauter als sonst.



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